Baustoffmarkt Oderland

Ein Schild das Kontaktdaten einer Firma für Baustoffe zeigt, sowie eine junge Frau im Kleid und mit Regenschirm
Dieses Schild hing an einem Bauzaun in Berlin-Lichtenberg.

Es hätte vermutlich die gleiche Nachricht, wenn statt der Frau ein „Hello Kitty“ drauf wäre. Oder ein Cupcake mit Glitzeraugen. Irgendwas Niedliches eben. Aber wie wäre es, wenn statt der Frau ein nett lächelnder junger Mann mit Regenschirm und naiv wirkender Körpersprache zu sehen wäre?


Auf Nachfragen meinerseits, warum die Frau mit Schirm auf dem Plakat ist und ob sie einen Bezug zu dem Angebot des Baustoffmarkts habe, wurde nicht reagiert.

 

La Melena

Ein Gitarrenladen! Ein Schuhladen! Ein Unterwäscheladen! Ein Friseur?

Das Bild zeigt eine Frau im Body mit High-Heels die eine Gitarre über den Schultern trägt.
Werbeplakat des Friseursalons La Melena in Nagold

Geht man zum Friseur, hat man meist eine gute Vorstellung davon, was einen dort erwartet. Denn auch, wenn die Frisur hinterher vielleicht anders aussieht als geplant, so ist doch einigermaßen klar, wie es dazu kommen wird.

Man geht in den Salon, vielleicht mit  Termin, man wartet, blättert eine Illustrierte durch, setzt sich in den Frisierstuhl, erzählt was man haben möchte und bekommt die Haare geschnitten, gefärbt, gelockt.

Aber wie darf man sich das „exklusive Friseurerlebnis“ des „Hairdresser“ La Melena vorstellen, das mit einer Frau im spitzenbesetzten Body beworben wird? Höchst wahrscheinlich gibt es kurze konzertartige Auftritte von der Frau, die so lässig die Gitarre auf der Schulter trägt. Ich stelle mir eine kleine Bühne in einer Ecke des Salons vor, die ich vom Frisierstuhl aus gut sehen kann. Die Frau mit den High Heels sitzt auf einem Hocker und spielt Gitarre. Damit wird der althergebrachte Smalltalk mit dem Friseur überflüßig. Als Kunde habe ich dann was zu kucken und zu hören, und der Friseur muss nicht reden, sondern kann sich auf seine Arbeit konzentrieren.

Auf der Homepage des Salons ist kein Hinweis auf dieses „exklusive Friseurerlebnis“  zu finden.

Aber vielleicht verstehe ich das auch ganz falsch und die Frau ist einfach nur ein billiger Blickfang. Warum dann aber kein Mann, der in Unterwäsche und mit Gitarre auf der Schulter sowie schicken Schuhen den Friseur bewirbt? Das kann doch auch gut aussehen! Aber das wäre ja albern. Warum sollte man denn mit einem halb nackten Mann einen Friseur bewerben?


Auf Nachfrage wurde mir erklärt, dass die Gitarre „eher als Accessoire“ gedacht war um „einen bestimmten Lebensstil“ auszudrücken. Ansonsten ginge es generell um „aufmerksamkeitsstarke Bilder“ die „zum Thema Mode und Style“ passen. Auf die Frage, ob der Salon sich das Plakat auch mit einem halbnackten Mann mit Gitarre und schicken Herrenschuhen vorstellen könne, lautete die Antwort, dass man sich einen „Mann in analoger Pose“ durchaus für die Kampagne vorstellen könne. Weiterhin ginge es ja um die „Transportierung von Themen wie Schönheit, Modebewusstsein und Ästhetik“ und diese seien „absolut Geschlechtsneutral.“. Und man werde bei zukünftigen Werbemotiven „selbstverständlich noch genauer auf das zu recht sehr sensible von Ihnen genannte Thema acht geben“.

Unterm Strich also heisse Luft und nettes Gerede. Die Frau auf dem Plakat ist und bleibt ein Objekt, das als Blickfang verwendet wird: Mit der impliziten These „Sex sells“.

Zensur für Zahnärzte

„Na Sie haben aber auch ein Pech…“

Entsetzt weiten sich meine Augen während ich die Frau im weißen Kittel, die sich mit Brille und Mundschutz über mich beugt, anstarre. Das darf sie doch nicht einfach so sagen! Sie redet weiter, aber es ist zu spät. Mein Bewusstsein hat sich ganz tief nach innen verkrochen. Es hängt an den Eingeweiden, die sich gerade zusammengezogen haben und in einem schwarzen Loch zu verschwinden drohen.

Wenn man mit Schmerzen zum Zahnarzt geht, weiss man, dass es nicht gut werden kann. Aber die Hoffnung lässt die Naivität wieder auf ein Niveau aus Kindertagen steigen.

Als sich mein Bewusstsein wieder nach aussen traut, redet die Zahnärztin immer noch. Der Mundschutz ist weg, die Brille runter, und ich stehe neben ihr im Behandlungszimmer. Eigentlich sieht sie gar nicht böse aus. „Also gut, dann gehen sie jetzt nochmal an die Rezeption und lassen sich einen Termin zum Zähneziehen geben.“ Adrenalin wird ausgeschüttet, die Zeit verläuft langsamer, mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. „Du musst jetzt etwas tun! Das ist deine einzige Chance! Sag was!“. Mein Mund formt die Worte: „Ich mach das nur mit Vollnarkose“. Runzeln zeigen sich auf der Stirn des Wolfes im weißen Schafspelz. „Das zahlt die Kasse aber nicht. Und wenn wir Sie dann schon mal da haben, dann nehmen wir aber auch gleich alle raus. Das lohnt sich sonst nicht.“

„Ja, ist mir egal. Machen sie was sie wollen. Solange ich die Vollnarkose kriege.“ Mit diesen Worten verlasse ich das Behandlungszimmer. Man darf dem bösen Wolf nicht unnötig Gelegenheiten bieten weitere Bosheiten zu verbreiten.

Ich stehe an der Rezeption und ausserdem auf der Liste für die Vollnarkosepatienten. „Die melden sich dann bei Ihnen, wenn sie genügend Leute beisammen haben und es einen Termin gibt.“ Ich verlasse die Praxis und betrete das Treppenhaus. Vier, drei, zwei… War gerade was? Irgendein Termin? Weiss ich nix mehr von.

Aber der Anruf kommt trotzdem. Und der Termin auch. Vor über zehn Jahren habe ich mal eine Reportage über eine handvoll Leute gesehen, bei denen die Vollnarkose nicht gewirkt hat. Sie berichteten, dass sie sich nicht bemerkbar machen konnten, aber alles ganz genau gefühlt haben. Stundenlange, bestialische Schmerzen während der OP.  Je näher der Termin rückt, desto lebhafter werden die traumatisierten, verheulten Gesichter die von den unmenschlichen Qualen sprechen. Dagegen machen die paar Meldungen von Leuten, die aus Vollnarkosen einfach nicht mehr aufwachen, auch nicht mehr viel aus.

Fast tiefenentspannt, mit dem Gedanken an das Testament, das ich nicht habe, mache ich mich auf zum Zahnarzt. Da man 24 Stunden nach einer Vollnarkose nicht als geschäftsfähig gilt, bin ich nicht alleine unterwegs. Die Praxis ist auf dem Gelände des BER. S- Bahn, Bus. Der Bus fährt 15 Minuten lang über das Gelände. Es ist weitläufig und unglaublich leer. Es mangelt gar nicht an Gebäuden, Parkbänken, Plätzen – aber an Menschen. Als würden wir in eine Reise in eine andere Realität antreten. Irgendwie passend.

In der Praxis angekommen bin ich beeindruckt! Wirklich schön. Ich fühle mich wohl, und komme mir gleichzeitig vor wie die Kuh auf dem Weg zur Schlachtbank die dadurch von ihrem nahenden Schicksal abgelenkt werden soll, dass man sie Kurven laufen lässt anstatt einer geraden Strecke.

Wir sind im Wartezimmer. Ein Mann in Blau tritt ein, er hat einen runden Kopf und eine auf der Nasenspitze sitzende Lesebrille. Dieser Look qualifiziert ihn in meinen Augen als Arzt. Er kuckt mich an, dann schaut er zu meinen Mann, und entscheidet sich dafür mich von nun an zu ignorieren. Ich mag ihn nicht. Und das fiese Lächeln das er meinem 24-Stunden-Vormund schenkt macht es auch nicht besser. „Dann sind sie also heute der Finanzminister?“

Äh, was?

An dieser Stelle sei gesagt, dass der Preis für die Narkose vor Ort bezahlt werden muss. Und da narkotisierte Patienten ja meist horizontal liegen, funktioniert das mit der Bezahlung hier wie in jedem anderem horizontalen Gewerbe, auf Stundenbasis. Und weil man vorher nie genau weiss wie lange sowas dauert, wird hinterher bezahlt. Also ist mein 24-Stunden-Vormund jetzt ausserdem Finanzminister.

Nachdem der eine Blaumann verschwunden ist, taucht der nächste auf. Er kommt zwar auch im Einheitslook mit Lesebrille auf der Nasensptize, ist aber das ausstrahlungstechnische Gegenstück zu seinem Vorgänger. Er ignoriert mich auch nicht. Er lässt sich meinen Namen bestätigen und fängt an zu lachen. „Der ist ja süss.“

Aha.

Er hat eine Mappe dabei und holt das durchsichtige Schwarzweissbild meines Kiefers hervor. Beugt sich zu mir runter und beginnt zu erklären. Also zumindest denke ich, dass er das vorhatte, denn der Zeigefinger seiner rechten Hand streckte sich aus. Die übrigen Finger rollten sich zur Handfläche hin und er holte Luft. Adrenalin. Die Zeit steht wieder still und ich erkenne die Warnzeichen.

„Ich wills nicht wissen!“

Da Lesebrillen, die auf Nasenspitzen getragen werden, nur dazu dienen, dass man eine bestimmte Kategorie von Blicken über sie werfen kann, macht er das jetzt. Er entscheidet sich für die erstaunte Variante, aber redet weiter. „Ich wills wirklich nicht wissen. Erzählen sie es ihm.“, verweise ich ihn an meinen Finanzminister. Da er an der Erfüllung seiner Pflichten gehindert wurde und er jetzt auch nicht sofort an mir rumschnippeln kann, geht er wieder.

Ich werde aufgerufen. Der Behandlungsraum ist klein. Eine Frau steht neben einem Apparat, der so groß ist, dass sie sich nicht darauf abstützen könnte. Sie bittet mich, mich hinzulegen. Der Anästhesist kommt dazu. Er hat echt einen ganz schön runden Kopf. Die Frau piekt mir eine Nadel in die Armbeuge und ich bin fasziniert wieviel weniger das piekt als beim Blutabnehmen. Ich warte das der Mann mit dem runden Kopf seiner Pflicht nachgeht und irgendetwas unternimmt um mir das Bewusstsein zu rauben, als die Frau bereits sagt: „Träumen sie schön.“

An meinem Schlüsselbein spüre ich, wie eine Flüssigkeit durch meine Adern fliesst. Wenn Blut immer so schnell fliesst, dann wundert es mich das ich meine blosse Existenz nicht anstrengender finde. Mein Hals kribbelt. Die Freude darüber teile ich mit der Frau, die mich gepiekst hat. Ich bin begeistert! Die Narkose wirkt bestimmt gleich. Jetzt ist es meine Kopfhaut, die kribbelt. Es kommt über meinen Hinterkopf und bahnt sich den Weg zur Stirn. Auch das wird verbalisiert und mitgeteilt. Im nächsten Moment spüre ich die erleichternde Gewissheit „Gott sei Dank, gleich bin ich weg.“

Filmriss.

Und Buff! Wieder da. Ich versuche die Augen zu öffnen. Ok, das klappt nicht ganz, dann halt nicht. Wenn ich die Augen nicht aufkriege kann ich genauso gut noch ne Runde … Filmriss … Und wieder wach. Also, relativ. Das mit dem Augenöffnen klappt immer noch nicht, aber etwas anderes erregt meine Aufmerksamkeit. Mein Mund fühlt sich gar nicht anders an? Ein Schreck durchfährt mich. Kein Schreck im herkömmlichen Sinne, der plötzlich kommt und einen zusammenzucken lässt. Mehr so ein Schreck, der versucht durch Wackelpudding zu watscheln um seine Mitteilung zu machen. Haben die etwa gar nicht operiert? Meine Unterlippe fühlt sich dick an. Aber nicht überall. Da ich meine Augen immer noch nicht aufkriege entscheide ich mich für die experimentelle Evaluierung des Ausmasses der Schwellung. Aus heutiger Sicht weiss ich, dass ich nur leicht senil und unkooridiniert auf meiner Unterlippe rumgekaut habe, aber in dem Moment war es ein hochkomplexes Prozedere das mit äusserter Sorgfalt durchgeführt wurde. Als einige Stunden später die Betäubung nachließ, stellte ich fest, dass ich meine Lippe total zerkaut hatte.

Nach der Beendigung dieses Experiments wagte ich mich an das Alte: Augen aufmachen. Eins ging sogar schon halb auf. An dieser Stelle traf ich die Entscheidung erst mal zu kucken was so los ist und mich zu gegebener Zeit nochmal mit dem anderen Auge zu beschäftigen. Ich sah meinen Finanzminister. Da er eine auffällige Haarpracht trägt, konnte ich sicher sein, dass er es war.

Er erzählte etwas, aber ich verstand es nicht. Es war mir auch egal, weil mir in dem Moment einfiel, dass der Piek von der Narkose ja gar nicht wehgetan hatte. Die Begeisterung war noch so groß, dass ich es ihm direkt erzählen musste. Ich war überrascht, wie gut ich mich artikulieren konnte. Ich fühlte mich auch schon wieder total fit. Kein Wunder, ich bin ja ein junger, halbwegs sportlicher  gesunder Mensch, warum sollte es da auch anders sein? Als er mich dann aber beim dritten Anlauf immer noch nicht verstanden hatte, wurde ich langsam ärgerlich. Warum hört er denn nicht richtig zu, verdammt? Später erzählte er mir, dass er dachte ich habe versucht zu buchstabieren. Ausser dem „S“ aus „Pieks“ war nichts zu verstehen. Das erklärte zumindest das vollgesabberte Kinn.

Nachdem ich keine Lust mehr hatte ihn mit meiner freudigen Mitteilung zu beglücken, war mir langweilig und ich schlief wieder ein. In der nächsten Wachphase kam eine Schwester ins Zimmer.

Sie sah nett aus. Die kann bestimmt kein Wolf sein. Sie fragte wie es mir ginge und ob ich schon wieder alles sehen kann. Jetzt wo sie danach fragte… Ich sah sie mehr als einmal. Aber doppelt war es auch nicht. Wie war das nochmal mit dem Auflösevermögen? Man kann zwei Objekte erst dann unterscheiden, wenn das Maxima des einen im ersten Minimum des anderen liegt oder so?

Ok, such dir erst mal einen Punkt von Schwester Nr. 1 zum Vergleich. Die Nase. Gut. Suche jetzt die Nase von Schwester Nr. 2. Also die Nasenspitze von Schwester 2 liegt genau auf dem Nasenflügel von Schwester 1. Oha! Ein Grenzfall. Ich überlege wie ich ihr das kurz und präzise begreiflich machen kann, denn sie hat ja danach gefragt und mir waren lange Erklärungen im Moment zu anstrengend. „Ich sehe Sie anderthalbfach.“ Sie schien zufrieden mit der Antwort. Es ist schon praktisch wenn man sich exakt ausdrücken kann.

Meine selige Zufriedenheit wurde gestört, als der Mann mit dem runden Kopf den  Raum betrat. Er wollte jetzt sein Geld haben. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es kurz vorher neue 50€ -Scheine gab. Und die Farbgebung dieser neuen Scheine war der Farbgebung der 10€-Scheine leicht ähnlich. So kam es, dass mein Finanzminister den fatalen Fehler machte und zu wenig Geld gab. „Das ist zu wenig.“ kam es trocken und unsympathisch zurück. Weil der Typ mir auf den Keks ging und ich als einzige in diesem Raum diese komplexe Situation vollständig erfasst hatte und mir eh langweilig war, sah ich mich gezwungen zu intervenieren. Es musste doch ein richtiges Lächeln aus diesem runden Kopf herauszubekommen sein.

„Hihi, ja das ist weil die neuen 50er den 10ern von der Farbe her so ähnlich sind. Er hat das verwechselt.“

Er sah mich kurz an und ignorierte mich wieder. Mein Finanzberater fuhrwerkte in seinem Geldbeutel. Hm… dann hat er den Witz wohl nicht verstanden. Ich erklärs einfach nochmal.

„Er hat den alten 10er mit dem neuen 50er verwechselt. Weil die sich so ähnlich sehen. Hihi.“

Jetzt kuckt er nicht mal mehr her. Einen Versuch noch!

„Es ist doch nur, weil…zzzZZZzzz“

Ich bin wieder eingeschlafen.

Endlich darf ich gehen. Also fast. Der Chirurg will meinem Finanzminister noch Instruktionen für die nächsten Tage geben. Zu diesem Zweck werde ich im Wartezimmer abgesetzt und mit der Aufgabe betraut, Schmerztabletten zu schlucken. Das mit dem Trinken stellt eine gewisse Herausforderung dar, zum einen wegen der noch betäubten Lippe, zum anderen weil ich abgelenkt bin. Ich bin nicht alleine im Wartezimmer. Auf dem Sofa neben mir sitzt eine Frau. Sie wartet augenscheinlich auch auf jemanden. Vermutlich mein Nachfolger auf dem OP-Stuhl. Ich finde sie kann ruhig wissen das ich zwar noch nicht so lange wieder wach bin, aber trotzdem schon die volle Peilung habe. Ich beuge mich über meine Sofalehne schaue sie an und sage „Na, sie sind wohl heute auch Finanzminister?“ Sie sieht mich kurz an. Und dann wieder weg. Das gibt`s doch nicht! Wieso ignorieren die mich alle? Also nochmal: Ich hole Luft „Also, was ich …“ und werde unterbrochen. Mein Finanzminister steht neben mir, sieht die Frau entschuldigend an und hilft mir aufzustehen.

Endlich! Ab in die Freiheit!

Als ich fast zur Tür raus bin, drehe ich mich nochmal um, um der Frau an der Rezeption Tschüss zu sagen. Aus dem Wartezimmer kommt der Anästhesist, am Empfang steht der Chirurg. Sie kucken sich über ihre Lesebrillen hinweg an und der Anästhesistt sagt:

„Es ist nix mehr zum Metzeln da.“

Als ich zur Tür raus bin denke ich „Wenn ich Königin der Welt bin, dann führe ich zuerst eine Zensur für Zahnärzte ein.“

Bergbau auf Glas

Ich sitze auf dem Sofa und starre in meinen Laptop. Eigentlich starre ich nur deswegen in den Laptop, um den Blick bloß nicht über den Ort gleiten zu lassen, an dem ich meinen Schreibtisch zuletzt gesehen habe. Er besteht aus einer Glasplatte auf zwei hölzernen Böcken. Wenn man aber noch einen Küchentisch hat und ein Sofa mit breiten, exakt waagerechten Armlehnen, dann kann es passieren, dass der Schreibtisch sich aufmacht die nächste Stufe der Evolution zu erklimmen. Das dramatische war, dass mein Schreibtisch nicht viel Entwicklungspotential hatte. Daher verlief seine Entwicklung eher rekursiv, hin zur schlichten aber geräumigen Ablagefläche.

Der Haufen auf ihm ist mittlerweile so hoch, dass ich die obersten Schichten bequem im aufrechten Stand durchwühlen kann. Vor kurzem gelang mir das Kunststück, erfolgreich einen ganzen Hefter aus einem Bereich des Haufens zu extrahieren, der bei nur 10 cm über N.N. Schreibtisch lag, ohne dabei die Statik der Konstruktion zu gefährden.

Nicht nur aus statischen Gründen muss der weiteren Evolution Einhalt geboten werden. In der Uni steht die nächste Prüfung an und ich muss prüfungsrelevantes Erz schürfen.

Motivation durchfährt mich, verändert meinen Körper. Die Couch-Kartoffel-Zombie-Haltung wandelt sich in etwas Neues. Der Rücken wird lang und gerade, die Schultern kreisen und bleiben weit hinten wie im Anschlag stecken. Die Lungen füllen sich über das lebensnotwendige Minimum hinaus mit abgestandener Luft. Ich spüre wie mich eine Aura von würdevoller Angriffslust umgibt. Und mir fällt ein, dass ich vor zwei Stunden die Wohnung lüften wollte.

Wenn ich dann schon in der Küche bin spricht ja auch nichts gegen einen Kaffee. Für den Schwung beim Aufräumen. Apropos Schwung, vielleicht auch ein wenig Musik? Die Auswahl an Playlisten ist groß. Welche eignet sich wohl am besten? Während ich die Listen durchscrolle fällt mir der Kaffee wieder ein. Ich puste vorsichtig und trinke einen winzigen Schluck. Der Fakt, dass mir jetzt kälter ist als vorher, lässt mich die Uhrzeit kontrollieren. Es ist 22 Minuten später.

Ich stehe vor dem Schreibtisch und trage die oberste Schicht ab. Es sind korrigierte Übungsblätter. Das Problem ist der Ordner, in den sie gehören, befindet sich ca. 20 cm tiefer.

Ein düsterer Nebel zieht auf und hüllt mein Bewusstsein ein. Eine Stimmung, die etwa so aufbauend ist wie Orwells Klassiker „1984“, breitet sich in mir aus. Mit einer imaginären Ohrfeige hole ich mich in die Realität zurück, ziehe mich an meinen eigenen Haaren aus dem Treibsand der Verzweiflung.

Schicht für Schicht schmilzt das Ungetüm. Obwohl ich nie Tagebuch geführt habe, kann ich mir jetzt vorstellen wie es sein muss, wenn man es liest. Das gesamte letzte Semester taucht vor meinem geistigen Auge auf und zieht vorüber. Aber es sind nicht nur die Uni-Sachen, die wiederkehren. Zwischen den vielen hingeschmierten Rechnungen, Übungsblättern, Skripten und Büchern finden sich Fragmente aus allen Lebensbereichen.

Das Bewerbungsschreiben für die Wohnung, die wir nach vielversprechendem Erstkontakt dann doch nicht einmal besichtigen konnten. Meine Güte haben wir geschleimt, und dann auch noch umsonst. Kontoauszüge. Ein Plastikbeutel mit Aspirin-Tütchen drin. Die Originalskizze vom Bällchen-Baum, die meinen Desktophintergrund verschönert. Mehr Kontoauszüge. Eine Kinokarte vom Zoo Palast: Brad Pitt in „Herz aus Stahl“.

Und dann gibt es da noch diese Dinge, die beweisen, dass es den Tunneleffekt auch auf makroskopischer Ebene geben muss. Wie sonst kommt eine Papiertüte mit Slipeinlagen auf meinen Schreibtisch? Oder die kaputten Kopfhörer, die ich doch garantiert schon in den Müll geworfen hatte?

Ein Notizzettel, auf dem alte Körpermaße stehen. Soviel zum Thema Abnehmen im neuen Jahr. Schon wieder Kontoauszüge? Eine Glückwunschkarte zum Geburtstag. Mein kaputter Lieblings-Druckbleistift. Streng genommen funktioniert er ja noch irgendwie, also erst mal in die zum Stiftespender umfunktionierte Espressodose.

Während ich weiter wühle, durchfährt mich plötzlich ein stechender Schmerz. Ich ziehe meine Hand aus dem Stapel und sie blutet. Mindestens ganz viel Blut strömt in Sturzbächen durch die neu geschaffenen Canyons des Haufens. Ich habe keine Pinnwand und trotzdem gerade in ein Nest aus Reißzwecken gegriffen. Mein innerer Hulk blafft von der Seite:

„Und das hast man jetzt davon wenn man aufräumt!“

Die ganze Aktion dauerte 1 h 20 min. Es tauchten vier verloren geglaubte Gegenstände auf. Es wurden drei Gegenstände wiedergefunden, von denen ich ganz genau wusste, dass sie da drin sein mussten.

Jetzt habe ich einen Haufen auf meinem Papierkorb.