Zensur für Zahnärzte

„Na Sie haben aber auch ein Pech…“

Entsetzt weiten sich meine Augen während ich die Frau im weißen Kittel, die sich mit Brille und Mundschutz über mich beugt, anstarre. Das darf sie doch nicht einfach so sagen! Sie redet weiter, aber es ist zu spät. Mein Bewusstsein hat sich ganz tief nach innen verkrochen. Es hängt an den Eingeweiden, die sich gerade zusammengezogen haben und in einem schwarzen Loch zu verschwinden drohen.

Wenn man mit Schmerzen zum Zahnarzt geht, weiss man, dass es nicht gut werden kann. Aber die Hoffnung lässt die Naivität wieder auf ein Niveau aus Kindertagen steigen.

Als sich mein Bewusstsein wieder nach aussen traut, redet die Zahnärztin immer noch. Der Mundschutz ist weg, die Brille runter, und ich stehe neben ihr im Behandlungszimmer. Eigentlich sieht sie gar nicht böse aus. „Also gut, dann gehen sie jetzt nochmal an die Rezeption und lassen sich einen Termin zum Zähneziehen geben.“ Adrenalin wird ausgeschüttet, die Zeit verläuft langsamer, mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. „Du musst jetzt etwas tun! Das ist deine einzige Chance! Sag was!“. Mein Mund formt die Worte: „Ich mach das nur mit Vollnarkose“. Runzeln zeigen sich auf der Stirn des Wolfes im weißen Schafspelz. „Das zahlt die Kasse aber nicht. Und wenn wir Sie dann schon mal da haben, dann nehmen wir aber auch gleich alle raus. Das lohnt sich sonst nicht.“

„Ja, ist mir egal. Machen sie was sie wollen. Solange ich die Vollnarkose kriege.“ Mit diesen Worten verlasse ich das Behandlungszimmer. Man darf dem bösen Wolf nicht unnötig Gelegenheiten bieten weitere Bosheiten zu verbreiten.

Ich stehe an der Rezeption und ausserdem auf der Liste für die Vollnarkosepatienten. „Die melden sich dann bei Ihnen, wenn sie genügend Leute beisammen haben und es einen Termin gibt.“ Ich verlasse die Praxis und betrete das Treppenhaus. Vier, drei, zwei… War gerade was? Irgendein Termin? Weiss ich nix mehr von.

Aber der Anruf kommt trotzdem. Und der Termin auch. Vor über zehn Jahren habe ich mal eine Reportage über eine handvoll Leute gesehen, bei denen die Vollnarkose nicht gewirkt hat. Sie berichteten, dass sie sich nicht bemerkbar machen konnten, aber alles ganz genau gefühlt haben. Stundenlange, bestialische Schmerzen während der OP.  Je näher der Termin rückt, desto lebhafter werden die traumatisierten, verheulten Gesichter die von den unmenschlichen Qualen sprechen. Dagegen machen die paar Meldungen von Leuten, die aus Vollnarkosen einfach nicht mehr aufwachen, auch nicht mehr viel aus.

Fast tiefenentspannt, mit dem Gedanken an das Testament, das ich nicht habe, mache ich mich auf zum Zahnarzt. Da man 24 Stunden nach einer Vollnarkose nicht als geschäftsfähig gilt, bin ich nicht alleine unterwegs. Die Praxis ist auf dem Gelände des BER. S- Bahn, Bus. Der Bus fährt 15 Minuten lang über das Gelände. Es ist weitläufig und unglaublich leer. Es mangelt gar nicht an Gebäuden, Parkbänken, Plätzen – aber an Menschen. Als würden wir in eine Reise in eine andere Realität antreten. Irgendwie passend.

In der Praxis angekommen bin ich beeindruckt! Wirklich schön. Ich fühle mich wohl, und komme mir gleichzeitig vor wie die Kuh auf dem Weg zur Schlachtbank die dadurch von ihrem nahenden Schicksal abgelenkt werden soll, dass man sie Kurven laufen lässt anstatt einer geraden Strecke.

Wir sind im Wartezimmer. Ein Mann in Blau tritt ein, er hat einen runden Kopf und eine auf der Nasenspitze sitzende Lesebrille. Dieser Look qualifiziert ihn in meinen Augen als Arzt. Er kuckt mich an, dann schaut er zu meinen Mann, und entscheidet sich dafür mich von nun an zu ignorieren. Ich mag ihn nicht. Und das fiese Lächeln das er meinem 24-Stunden-Vormund schenkt macht es auch nicht besser. „Dann sind sie also heute der Finanzminister?“

Äh, was?

An dieser Stelle sei gesagt, dass der Preis für die Narkose vor Ort bezahlt werden muss. Und da narkotisierte Patienten ja meist horizontal liegen, funktioniert das mit der Bezahlung hier wie in jedem anderem horizontalen Gewerbe, auf Stundenbasis. Und weil man vorher nie genau weiss wie lange sowas dauert, wird hinterher bezahlt. Also ist mein 24-Stunden-Vormund jetzt ausserdem Finanzminister.

Nachdem der eine Blaumann verschwunden ist, taucht der nächste auf. Er kommt zwar auch im Einheitslook mit Lesebrille auf der Nasensptize, ist aber das ausstrahlungstechnische Gegenstück zu seinem Vorgänger. Er ignoriert mich auch nicht. Er lässt sich meinen Namen bestätigen und fängt an zu lachen. „Der ist ja süss.“

Aha.

Er hat eine Mappe dabei und holt das durchsichtige Schwarzweissbild meines Kiefers hervor. Beugt sich zu mir runter und beginnt zu erklären. Also zumindest denke ich, dass er das vorhatte, denn der Zeigefinger seiner rechten Hand streckte sich aus. Die übrigen Finger rollten sich zur Handfläche hin und er holte Luft. Adrenalin. Die Zeit steht wieder still und ich erkenne die Warnzeichen.

„Ich wills nicht wissen!“

Da Lesebrillen, die auf Nasenspitzen getragen werden, nur dazu dienen, dass man eine bestimmte Kategorie von Blicken über sie werfen kann, macht er das jetzt. Er entscheidet sich für die erstaunte Variante, aber redet weiter. „Ich wills wirklich nicht wissen. Erzählen sie es ihm.“, verweise ich ihn an meinen Finanzminister. Da er an der Erfüllung seiner Pflichten gehindert wurde und er jetzt auch nicht sofort an mir rumschnippeln kann, geht er wieder.

Ich werde aufgerufen. Der Behandlungsraum ist klein. Eine Frau steht neben einem Apparat, der so groß ist, dass sie sich nicht darauf abstützen könnte. Sie bittet mich, mich hinzulegen. Der Anästhesist kommt dazu. Er hat echt einen ganz schön runden Kopf. Die Frau piekt mir eine Nadel in die Armbeuge und ich bin fasziniert wieviel weniger das piekt als beim Blutabnehmen. Ich warte das der Mann mit dem runden Kopf seiner Pflicht nachgeht und irgendetwas unternimmt um mir das Bewusstsein zu rauben, als die Frau bereits sagt: „Träumen sie schön.“

An meinem Schlüsselbein spüre ich, wie eine Flüssigkeit durch meine Adern fliesst. Wenn Blut immer so schnell fliesst, dann wundert es mich das ich meine blosse Existenz nicht anstrengender finde. Mein Hals kribbelt. Die Freude darüber teile ich mit der Frau, die mich gepiekst hat. Ich bin begeistert! Die Narkose wirkt bestimmt gleich. Jetzt ist es meine Kopfhaut, die kribbelt. Es kommt über meinen Hinterkopf und bahnt sich den Weg zur Stirn. Auch das wird verbalisiert und mitgeteilt. Im nächsten Moment spüre ich die erleichternde Gewissheit „Gott sei Dank, gleich bin ich weg.“

Filmriss.

Und Buff! Wieder da. Ich versuche die Augen zu öffnen. Ok, das klappt nicht ganz, dann halt nicht. Wenn ich die Augen nicht aufkriege kann ich genauso gut noch ne Runde … Filmriss … Und wieder wach. Also, relativ. Das mit dem Augenöffnen klappt immer noch nicht, aber etwas anderes erregt meine Aufmerksamkeit. Mein Mund fühlt sich gar nicht anders an? Ein Schreck durchfährt mich. Kein Schreck im herkömmlichen Sinne, der plötzlich kommt und einen zusammenzucken lässt. Mehr so ein Schreck, der versucht durch Wackelpudding zu watscheln um seine Mitteilung zu machen. Haben die etwa gar nicht operiert? Meine Unterlippe fühlt sich dick an. Aber nicht überall. Da ich meine Augen immer noch nicht aufkriege entscheide ich mich für die experimentelle Evaluierung des Ausmasses der Schwellung. Aus heutiger Sicht weiss ich, dass ich nur leicht senil und unkooridiniert auf meiner Unterlippe rumgekaut habe, aber in dem Moment war es ein hochkomplexes Prozedere das mit äusserter Sorgfalt durchgeführt wurde. Als einige Stunden später die Betäubung nachließ, stellte ich fest, dass ich meine Lippe total zerkaut hatte.

Nach der Beendigung dieses Experiments wagte ich mich an das Alte: Augen aufmachen. Eins ging sogar schon halb auf. An dieser Stelle traf ich die Entscheidung erst mal zu kucken was so los ist und mich zu gegebener Zeit nochmal mit dem anderen Auge zu beschäftigen. Ich sah meinen Finanzminister. Da er eine auffällige Haarpracht trägt, konnte ich sicher sein, dass er es war.

Er erzählte etwas, aber ich verstand es nicht. Es war mir auch egal, weil mir in dem Moment einfiel, dass der Piek von der Narkose ja gar nicht wehgetan hatte. Die Begeisterung war noch so groß, dass ich es ihm direkt erzählen musste. Ich war überrascht, wie gut ich mich artikulieren konnte. Ich fühlte mich auch schon wieder total fit. Kein Wunder, ich bin ja ein junger, halbwegs sportlicher  gesunder Mensch, warum sollte es da auch anders sein? Als er mich dann aber beim dritten Anlauf immer noch nicht verstanden hatte, wurde ich langsam ärgerlich. Warum hört er denn nicht richtig zu, verdammt? Später erzählte er mir, dass er dachte ich habe versucht zu buchstabieren. Ausser dem „S“ aus „Pieks“ war nichts zu verstehen. Das erklärte zumindest das vollgesabberte Kinn.

Nachdem ich keine Lust mehr hatte ihn mit meiner freudigen Mitteilung zu beglücken, war mir langweilig und ich schlief wieder ein. In der nächsten Wachphase kam eine Schwester ins Zimmer.

Sie sah nett aus. Die kann bestimmt kein Wolf sein. Sie fragte wie es mir ginge und ob ich schon wieder alles sehen kann. Jetzt wo sie danach fragte… Ich sah sie mehr als einmal. Aber doppelt war es auch nicht. Wie war das nochmal mit dem Auflösevermögen? Man kann zwei Objekte erst dann unterscheiden, wenn das Maxima des einen im ersten Minimum des anderen liegt oder so?

Ok, such dir erst mal einen Punkt von Schwester Nr. 1 zum Vergleich. Die Nase. Gut. Suche jetzt die Nase von Schwester Nr. 2. Also die Nasenspitze von Schwester 2 liegt genau auf dem Nasenflügel von Schwester 1. Oha! Ein Grenzfall. Ich überlege wie ich ihr das kurz und präzise begreiflich machen kann, denn sie hat ja danach gefragt und mir waren lange Erklärungen im Moment zu anstrengend. „Ich sehe Sie anderthalbfach.“ Sie schien zufrieden mit der Antwort. Es ist schon praktisch wenn man sich exakt ausdrücken kann.

Meine selige Zufriedenheit wurde gestört, als der Mann mit dem runden Kopf den  Raum betrat. Er wollte jetzt sein Geld haben. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es kurz vorher neue 50€ -Scheine gab. Und die Farbgebung dieser neuen Scheine war der Farbgebung der 10€-Scheine leicht ähnlich. So kam es, dass mein Finanzminister den fatalen Fehler machte und zu wenig Geld gab. „Das ist zu wenig.“ kam es trocken und unsympathisch zurück. Weil der Typ mir auf den Keks ging und ich als einzige in diesem Raum diese komplexe Situation vollständig erfasst hatte und mir eh langweilig war, sah ich mich gezwungen zu intervenieren. Es musste doch ein richtiges Lächeln aus diesem runden Kopf herauszubekommen sein.

„Hihi, ja das ist weil die neuen 50er den 10ern von der Farbe her so ähnlich sind. Er hat das verwechselt.“

Er sah mich kurz an und ignorierte mich wieder. Mein Finanzberater fuhrwerkte in seinem Geldbeutel. Hm… dann hat er den Witz wohl nicht verstanden. Ich erklärs einfach nochmal.

„Er hat den alten 10er mit dem neuen 50er verwechselt. Weil die sich so ähnlich sehen. Hihi.“

Jetzt kuckt er nicht mal mehr her. Einen Versuch noch!

„Es ist doch nur, weil…zzzZZZzzz“

Ich bin wieder eingeschlafen.

Endlich darf ich gehen. Also fast. Der Chirurg will meinem Finanzminister noch Instruktionen für die nächsten Tage geben. Zu diesem Zweck werde ich im Wartezimmer abgesetzt und mit der Aufgabe betraut, Schmerztabletten zu schlucken. Das mit dem Trinken stellt eine gewisse Herausforderung dar, zum einen wegen der noch betäubten Lippe, zum anderen weil ich abgelenkt bin. Ich bin nicht alleine im Wartezimmer. Auf dem Sofa neben mir sitzt eine Frau. Sie wartet augenscheinlich auch auf jemanden. Vermutlich mein Nachfolger auf dem OP-Stuhl. Ich finde sie kann ruhig wissen das ich zwar noch nicht so lange wieder wach bin, aber trotzdem schon die volle Peilung habe. Ich beuge mich über meine Sofalehne schaue sie an und sage „Na, sie sind wohl heute auch Finanzminister?“ Sie sieht mich kurz an. Und dann wieder weg. Das gibt`s doch nicht! Wieso ignorieren die mich alle? Also nochmal: Ich hole Luft „Also, was ich …“ und werde unterbrochen. Mein Finanzminister steht neben mir, sieht die Frau entschuldigend an und hilft mir aufzustehen.

Endlich! Ab in die Freiheit!

Als ich fast zur Tür raus bin, drehe ich mich nochmal um, um der Frau an der Rezeption Tschüss zu sagen. Aus dem Wartezimmer kommt der Anästhesist, am Empfang steht der Chirurg. Sie kucken sich über ihre Lesebrillen hinweg an und der Anästhesistt sagt:

„Es ist nix mehr zum Metzeln da.“

Als ich zur Tür raus bin denke ich „Wenn ich Königin der Welt bin, dann führe ich zuerst eine Zensur für Zahnärzte ein.“

Bergbau auf Glas

Ich sitze auf dem Sofa und starre in meinen Laptop. Eigentlich starre ich nur deswegen in den Laptop, um den Blick bloß nicht über den Ort gleiten zu lassen, an dem ich meinen Schreibtisch zuletzt gesehen habe. Er besteht aus einer Glasplatte auf zwei hölzernen Böcken. Wenn man aber noch einen Küchentisch hat und ein Sofa mit breiten, exakt waagerechten Armlehnen, dann kann es passieren, dass der Schreibtisch sich aufmacht die nächste Stufe der Evolution zu erklimmen. Das dramatische war, dass mein Schreibtisch nicht viel Entwicklungspotential hatte. Daher verlief seine Entwicklung eher rekursiv, hin zur schlichten aber geräumigen Ablagefläche.

Der Haufen auf ihm ist mittlerweile so hoch, dass ich die obersten Schichten bequem im aufrechten Stand durchwühlen kann. Vor kurzem gelang mir das Kunststück, erfolgreich einen ganzen Hefter aus einem Bereich des Haufens zu extrahieren, der bei nur 10 cm über N.N. Schreibtisch lag, ohne dabei die Statik der Konstruktion zu gefährden.

Nicht nur aus statischen Gründen muss der weiteren Evolution Einhalt geboten werden. In der Uni steht die nächste Prüfung an und ich muss prüfungsrelevantes Erz schürfen.

Motivation durchfährt mich, verändert meinen Körper. Die Couch-Kartoffel-Zombie-Haltung wandelt sich in etwas Neues. Der Rücken wird lang und gerade, die Schultern kreisen und bleiben weit hinten wie im Anschlag stecken. Die Lungen füllen sich über das lebensnotwendige Minimum hinaus mit abgestandener Luft. Ich spüre wie mich eine Aura von würdevoller Angriffslust umgibt. Und mir fällt ein, dass ich vor zwei Stunden die Wohnung lüften wollte.

Wenn ich dann schon in der Küche bin spricht ja auch nichts gegen einen Kaffee. Für den Schwung beim Aufräumen. Apropos Schwung, vielleicht auch ein wenig Musik? Die Auswahl an Playlisten ist groß. Welche eignet sich wohl am besten? Während ich die Listen durchscrolle fällt mir der Kaffee wieder ein. Ich puste vorsichtig und trinke einen winzigen Schluck. Der Fakt, dass mir jetzt kälter ist als vorher, lässt mich die Uhrzeit kontrollieren. Es ist 22 Minuten später.

Ich stehe vor dem Schreibtisch und trage die oberste Schicht ab. Es sind korrigierte Übungsblätter. Das Problem ist der Ordner, in den sie gehören, befindet sich ca. 20 cm tiefer.

Ein düsterer Nebel zieht auf und hüllt mein Bewusstsein ein. Eine Stimmung, die etwa so aufbauend ist wie Orwells Klassiker „1984“, breitet sich in mir aus. Mit einer imaginären Ohrfeige hole ich mich in die Realität zurück, ziehe mich an meinen eigenen Haaren aus dem Treibsand der Verzweiflung.

Schicht für Schicht schmilzt das Ungetüm. Obwohl ich nie Tagebuch geführt habe, kann ich mir jetzt vorstellen wie es sein muss, wenn man es liest. Das gesamte letzte Semester taucht vor meinem geistigen Auge auf und zieht vorüber. Aber es sind nicht nur die Uni-Sachen, die wiederkehren. Zwischen den vielen hingeschmierten Rechnungen, Übungsblättern, Skripten und Büchern finden sich Fragmente aus allen Lebensbereichen.

Das Bewerbungsschreiben für die Wohnung, die wir nach vielversprechendem Erstkontakt dann doch nicht einmal besichtigen konnten. Meine Güte haben wir geschleimt, und dann auch noch umsonst. Kontoauszüge. Ein Plastikbeutel mit Aspirin-Tütchen drin. Die Originalskizze vom Bällchen-Baum, die meinen Desktophintergrund verschönert. Mehr Kontoauszüge. Eine Kinokarte vom Zoo Palast: Brad Pitt in „Herz aus Stahl“.

Und dann gibt es da noch diese Dinge, die beweisen, dass es den Tunneleffekt auch auf makroskopischer Ebene geben muss. Wie sonst kommt eine Papiertüte mit Slipeinlagen auf meinen Schreibtisch? Oder die kaputten Kopfhörer, die ich doch garantiert schon in den Müll geworfen hatte?

Ein Notizzettel, auf dem alte Körpermaße stehen. Soviel zum Thema Abnehmen im neuen Jahr. Schon wieder Kontoauszüge? Eine Glückwunschkarte zum Geburtstag. Mein kaputter Lieblings-Druckbleistift. Streng genommen funktioniert er ja noch irgendwie, also erst mal in die zum Stiftespender umfunktionierte Espressodose.

Während ich weiter wühle, durchfährt mich plötzlich ein stechender Schmerz. Ich ziehe meine Hand aus dem Stapel und sie blutet. Mindestens ganz viel Blut strömt in Sturzbächen durch die neu geschaffenen Canyons des Haufens. Ich habe keine Pinnwand und trotzdem gerade in ein Nest aus Reißzwecken gegriffen. Mein innerer Hulk blafft von der Seite:

„Und das hast man jetzt davon wenn man aufräumt!“

Die ganze Aktion dauerte 1 h 20 min. Es tauchten vier verloren geglaubte Gegenstände auf. Es wurden drei Gegenstände wiedergefunden, von denen ich ganz genau wusste, dass sie da drin sein mussten.

Jetzt habe ich einen Haufen auf meinem Papierkorb.

Sprichwörter. Oder so ähnlich.

Ich bin ja keine Freundin von Verallgemeinerungen, aber…

…mir drängte sich in den letzten Jahren die Ansicht auf, dass Männer eine sehr kreative Umgangsweise mit Sprichwörtern pflegen. Da es sich bei dieser Aussage um eine streng wissenschaftliche These handelt, präsentiere ich im Folgenden meine Messwerte. Wie auch in der Experimentalphysik, ist hier kein strenger Beweis möglich. Jedoch gilt, ab einer bestimmten Anzahl von Beobachtungen die mit der These konform gehen, die These als empirisch bewiesen. Hier also der Anfang eines empirischen Beweises.

Das Sonnenkuchenpferd

Er: „Du strahlst wie ein Sonnenkuchenpferd.“

Ich würde es als „Honigkuchenpferd 2.0 premium deluxe Edition“ vermarkten. Zugehöriger Werbespruch: „Grinst du noch oder strahlst du schon?“

Freudentränen

Er: „Da möchte man glatt mit Freudentränen durch die Gegend springen.“

Wenn ich bloss das Bild zeichnen könnte, das ich dabei im Kopf habe…

Mit Kanonen Schiessen

Man stelle sich an dieser Stelle einen Mann vor, der mit seiner Großmutter telefoniert. Die Großmutter beklagt sich zum wiederholten Male darüber, dass die Tochter sich nur einmal die Woche meldet, macht ihrer Empörung über diese unmenschliche Grausamkeit Luft. Der Mann, der dieser Unterhaltung bei den ersten elf Malen mit kühler Logik beizukommen versuchte, hatte heute einen anstrengenden Tag. Die Großmutter bereichert ihre Stimmlage mit einem dezenten, jammernden Unterton und läutet so den Beginn von Runde zwölf ein. Der Mann erkennt das sich anbahnende Unwetter und ihm reisst der Geduldsfaden. Mit scharfem Tonfall, und vielleicht ein wenig lauter als beabsichtigt, sagt er:

„Du musst doch nicht immer mit Kanonen durchs Fenster schießen!“

Ich höre es durch die offene Tür im Nebenzimmer und habe nicht die Beherrschung einen Lachanfall zurückzuhalten.

Die Fette Kuh

Er: „Das macht die Kuh jetzt auch nicht mehr fett.“

Ich: „Das heisst ‚Kohl‘.“

Er: „Ein fetter Kohl? Das macht gar keinen Sinn. Ne fette Kuh ergibt doch mehr Burger. “

Argumente Verbrennen

Er: „Manchmal muss man Argumente ins Feuer werfen. “

Ich: „Äh, was?“

Er: „Hä!?“

Ausgehend von der Annahme, dass es sich um eine Mischung der zwei Sprichwörter „Eisen im Feuer haben“ und „die Flinte ins Korn werfen“ handelt, nehme ich folgende Aussage als mögliche Interpretation an:

Er wollte sagen, dass man verschiedene Argumente parat haben muss, sich aber auch an gegebener Stelle von dem einen oder anderen Argument verabschieden sollte.

Auf Glatteis stehen

Er: „Wenn ich ihm nicht Bescheid sage, dann steht er da einfach auf Glatteis.“

Ein schönes Beispiel für eine Wandlung der Bedeutung. Aus der bösartigen Absicht jemanden aufs Glatteis zu führen, wird die Beschreibung einer Person die sich in einer vermeintlich gefährlichen Situation befindet.

Schäfchen

Er: „Man muss halt kucken, dass man seine Schäfchen ins Grüne bringt.“

Ich: „Ins Grüne? Meinst du vielleicht ‚ins Trockene‘?“

Er: „Hm… also ich dachte grün wie die Hoffnung. Aber ‚trocken‘ geht bestimmt auch.“

Fazit

Die Individualisierung von Sprichwörtern und Redewendungen scheint mir eine konsequent gedachte Verallgemeinerung des DIY-Trends zu sein.

In diesem Sinne: Weiter so, liebe Männer!

Warum ich kein GNTM mehr kucke

Vor 3 Tagen habe ich sie gesehen. Die erste Folge der 10. Staffel von GNTM.

Es sollte die 4. Staffel werden die ich gänzlich verfolgen wollte. Ich wollte mich dem Voyeurismus und der Sensationslust hingeben, gewürzt mit vereinzelten kleinen Phantasien in denen ich eins von „Heidis Mädchen“ wäre. Die Auseinandersetzung mit der Frage wie ich mich wohl an Stelle der „Mädchen“, wie Heidi sie immer nennt, anstellen würde. Ich selbst wollte wieder Juror sein, Über-Juror eigentlich, denn ich wollte ja beurteilen ob das, was die Jury so vom Stapel lässt denn überhaupt zutreffend, gerechtfertigt, fachmännisch und generell richtig oder falsch ist.
Nachdem ich die Vorfreude überstanden hatte war es am Samstag soweit. Laptop, Kaffee, Sofa, ProSieben.de.

Die Folge ging los. Mit der fortschreitenden Zeitleiste des Players machten sich kleine Unterschiede zu den letzten Staffeln die ich gesehen hatte bemerkbar: Es gab drei Kandidaten die aus dem Rahmen vielen. Diese drei stellen drei Schattierungen einer Farbe dar, die nicht die gleiche war, wie die der „Mädchen“. Zunächst war da eine junge Frau, die dereinst ein Mann gewesen war. Die „große Operation“ war schon passiert und sowohl äußerlich, als auch an der Stimme, gab es keine „verräterischen Anzeichen“. Sie trat vor die Jury und ihre Besonderheit wurde nicht bemerkt / thematisiert. Soweit so gut.
Die nächste Abstufung der Farbe möchte ich an dieser Stelle zunächst überspringen, da sie der eigentliche Auslöser für die vielen noch Folgenden Gedanken war.
Also zur letzten Schattierung. Es war ein, als solcher erkennbarer, Mann der vor die Jury trat. Er trug Nylonstrumpfhosen, High Heels und Bart. Seitens der Jury gab es Kommentare zu den tollen Beinen, Conchita Wurst und den Hinweis, dass man ja leider ein Mädchen suche.
Dann kam die Mitte zwischen den beiden. Ein Mann, der auch rein anatomisch noch einer war, sich aber als Frau inszenierte. Seine schmale Statur fiel zwischen den mageren Mädchen nicht weiter auf. Die Arme waren vielleicht etwas muskulöser. Er trat vor die Jury, wurde als Mann erkannt und auch hier wieder der Hinweis von Heidi, das ein Mädchen gesucht sei.
Jetzt passierte die kleine Erschütterung die meinen Stein ins Rollen brachte. Joop meldete sich zu Wort mit der Bemerkung das er ihn durchaus gerne im Bikini sehen würde (also in der nächsten Runde). Es gab eine Art von Diskusion mit Heidi aber das Ende vom Lied war, dass er gehen musste.

Ich war begeistert! Wie unglaublich viel interessanter wäre diese Show, wenn Frauen und Männer gleichermaßen teilnehmen könnten, und je nach eigenem Wunsch, oder Bedarf, als female oder male model auftreten könnten!

Obwohl, vielleicht wäre das ein wenig chaotisch. Vielleicht doch erst einfach mal „Germanys next male topmodel“. Ich stellte mir vor, wie junge Männer auf diesem Massencasting auf die Jury zustolzierten, sich auf die drehende Platte stellten und beurteilen ließen.
Ein Stich des Unbehagens durchfuhr meine Magengegend. Eigentlich will ich lieber nicht sehen wie sich da irgendwelche Männer erniedrigen lassen. Nein, also das geht echt nicht.

Denkpause.

An dieser Stelle aktivierte sich, quasi per Alarmknopf, meine innere Mega-Emanze und schrie mich an: „Ach, und bei Frauen kannst du das oder was ?!?!“
Scham. Überraschung. Wut. Scham. Wut!
Warum? Warum sah ich das so? Ich schätze mal es liegt einfach daran, dass ich diesen Anblick mit Frauen gewöhnt bin. Aber man kann sich ja umgewöhnen. Wenn Frauen sich im Modelcasting erniedrigen, dann kann es ja nur Gleichberechtigung sein, wenn Männer das auch tun. Also versuchte ich mir wieder GNTM mit „Jungs“ vorzustellen. Schon in diesem Moment tauchte das nächste Problem auf.

Jungs.

Die jüngsten „Mädchen“ die bei GNTM mitmachen sind 16. Das ist das Mindestalter. Ich stellte mir also vor, wie 16 jährige „Jungs“ sich in Badehose an einem Strand räkeln und versuchen sexy und männlich auszusehen. Meine Mimik veränderte sich bei dem Gedanken. Meine Oberlippe zog sich leicht nach oben, meine Augenbrauen schoben sich zusammen und ein latentes Gefühl von Widerwillen machte sich breit.
Ich fühlte mich pervers. Im negativsten Sinne des Wortes. Obwohl ich selbst nur 10 Jahre älter bin als die „Jungs“ in meinem Kopf gerade, kam ich mir vor wie das Klischee eines alten Mannes der sich im Schwimmbad an dem Anblick von Grundschülerinnen aufgeilt. GNTM mit „Jungs“ könnte ich also wohl eher nicht kucken.
Aber wie zum Teufel können dann erwachsene Männer GNTM kucken? Und dann auch noch mit ihren Freundinnen, Ehefrauen, Töchtern? Registrieren sie nicht, dass sie sich gerade an Minderjährigen aufgeilen? Oder wollen sie das nicht wissen? Und ja, ich nenne es aufgeilen. Denn, auch wenn nicht direkt dazu masturbiert werden sollte, so bleibt der Grund sich das anzuschauen immer noch ein zutiefst voyeuristischer.
Man schaut GNTM nicht „hauptsächlich“ oder „ausschließlich“ wegen der gelungen Sprüche der Juroren, der Kunstfertigkeit der Fotografen, der Schadenfreude an den Streitereien der „Mädchen“.

Am nächsten Tag hatte ich das Thema immer noch im Kopf.

Wenn es also daran lag, das ich mich selbst einfach zu oft mit Materialien mit ausschließlich weiblichen Models beschäftigt hatte, dann wollte ich mir jetzt ein paar männliche Models ankucken: Youtube. male fashion show paris 2015. Zunächst sah ich die Show von Versace. Die „Jungs“ die hier auftraten, waren muskulös und hatten eine Statur, will sagen, Breite der Schultern, etc. Im Anschluss sah ich die Show von Alexander McQueen. In jeder Hinsicht ein Kontrast.
Die „Jungs“ waren unfassbar mager. Ich konnte mich nicht auf die Kleidung konzentrieren, weil sich in mir das Bedürfnis ausbreite diese „Jungs“ zwangs zu ernähren. Ich empfand sie in keinster weise als männlich. Meine innere Emanze schrie wieder laut auf „Ach, aber wenn die mageren Mädels da rumrennen, dann findest du die doch auch total weiblich!“.

Das darf nicht wahr sein.

Wie kann es sein das die Bilder in meinem Kopf derart vermurkst sind, dass ich eine magere Frau als weiblich empfinde und einen mageren Mann als unmännlich? Ich meine, streng genommen haben sich deren Figuren kaum unterschieden. Wo ich also bisher jemand war der sagte: „Ja, ich kucke Topmodel, ich finde es unterhaltsam. “ und: „Ich weiß auch das es Mädchen gibt die wegen sowas Essstörungen entwickeln, aber das interessiert mich nur bedingt, denn GNTM ist da nur eine Ursache von vielen.“, sehe ich das Ganze jetzt doch etwas anders.

Ich werde die Bilder in meinem Kopf wieder gerade rücken.

Warum sollte ich mich länger Einflüssen aussetzen, die meine Denkweise derart manipuliert haben? Klar ist auch hier Topmodel nur eine von vielen Ursachen, aber eine der ich ohne weiteres aus dem Weg gehen kann.

Das Leben ist nicht fair wenn man vom Kekse essen Kopfweh bekommt…

Mittwochabend:

Meine Schwester hält es für nötig mich per Kurznachricht darüber zu informieren das sie jetzt Kekse haben will. Als große Schwester sah ich mich da natürlich in der Verantwortung ihr ein Foto von frisch gebackenen Keksen unter die Nase zu reiben.
Also Kekse backen. Eigentlich war es mehr sowas die „Teig zusammenprügeln“ . Kekse fertig, Foto geschickt, Schadenfreude genossen. Und dann beim Versuch einen der Kekse zu geniessen, der Beginn des Dramas.
Wenn einem seit zwei Tagen drei Zähne fehlen, dann geht das mit Keksen nicht so gut. Vor allem wenn die steinhart aus dem Backofen kommen. Nun gut, die eiserne Disziplin, aus Schmerz erwachsen, erlaubte es mir auf den nächsten Tag zu warten.

Donnerstagmittag:

Während ich zu Hause fleissig das Sofa warm halte, fällt mir im Augenwinkel ein angeknabberter Keks von gestern auf. Behutsam nehme ich den Keks in die Hand und drücke leicht zu…er ist weicher geworden! Vorsichtig breche ich ein Stück ab und versuche zu kauen. Wenn man den Begriff „kauen“ etwas weiter fasst, dann ist er durchaus passend. Ich erfreue mich also an dem Keks als die Gier erwacht. Es gibt noch mehr Kekse…in der Dose…in der Küche…die sind bestimmt auch weich…

Mein Bewusstsein wird von stechenden Kopfschmerzen wieder zum Leben erweckt. Wo kommt der Schmerz her? Er strahlt aus meinem Oberkiefer und pocht gegen die Schläfen. Vor mir sehe ich die Dose. Drei Kekse fehlen. Sie waren nicht weich. Nachträglich macht das auch Sinn, aber dummerweise erfordert das Ziehen von Konsequenzen mentale Anwesenheit.

Erkenntnis: Das Leben ist nicht fair, wenn man vom Kekse essen Kopfweh bekommt.

Bauaufseher und Gentleman

Es ist Donnerstag und der erste zweistellig temperierte Tag in diesem Jahr.

Die Sonne scheint und ich freue mich schon darauf gleich aus dem Auto ausszustiegen und die Baustelle zu begutachten. Heute ist es eine Kita. Wir sollen nur ein paar Türchen und eine Leiter abholen und etwas ausmessen.
Also alles entspannt.
Wir betreten das Gelände. Dachdecker, Maurer, Zimmerleute. Alle da. Das Gebäude, dessen sonderbare Architektur von dem Baugerüst noch unterstrichen wird, wirkt wie ein Abenteuerspielplatz. 30 Jungs toben hier und spielen mit ihren Eimerchen, Winkelschleiferchen, Bohrmaschinchen und Hämmerchen.
Einer der Jungs bemerkt wie wir das Grundstück betreten. In seinen zusammengekniffenen Augen und den nichtvorhandenen Lachfalten sieht man das er hier entscheidet wer mitspielen darf. Er macht nicht den Eindruck als würde es jeder an ihm vorbeischaffen. Er sieht den Altgesellen an und dann mich. Sein Blick lockert sich für den Bruchteil einer Sekunde um den Wechsel der Mimik zu einem leicht iriitierten Stirnruzeln und wieder zurück zu vollführen. Beeindruckende Gesichtsmuskulatur.
Wir sind im Gebäude.
Der „Einlass-Junge“ stellt sich uns als Bauaufseher vor, erklärt was, wo, wie und das er eigentlich selbst nicht so genau weiss.
Der Altgeselle möchte Wasserlassen. In dieses Geheimnis von gradezu staatstragender Wichtigkeit weihte er mich bereits vorher ein.
Ebendiese Ehre lässt er nun auch dem Aufseher zu Teil werden. Dieser führt uns durch das Labyrinth aus Betonsäcken, Baugerüsten und allem möglichen und unöglichen Krimskrams zu einem anderen Raum.
Im Moment des Erreichens des Ortes der die Erlösung für den Altgesellen bedeutet, regt sich plötzlich etwas in den Synapsen des Bauaufsehers was ihn dazu bewegt mit dieser Tätigkeit aufzuhören.
Er bleibt stehen, dreht sich abrput um , sieht vom Altgesellen zu mir und wieder zurück. Er hat eine Frage.
„Wer von euch muss denn?“
Wir Neuankömmlinge sehen uns kurz an, sind uns einig das nicht ich diejenige mit dem Geheimnis war und wollen ihm das gerade verkünden, da kommt eine Aussage die mich irritiert, einen Lachreiz hervorrufen möchte, abe in erster Linie meinen Kinnladen zu Fall bringt.
„Weil wenn sie nämlich muss dann putz ich vorher das Klo.“
„Äh…nein, nein….er muss….schon ok….aber danke…?“
„Weil, naja es sind ja hier doch 30 Männer und ein Klo“. Die Gesichtsmuskulatur des Aufsehers vollführt ein Kunststück das man vor allem aus Filmen kennt. Einen verschwörerischen Blick der sagen, nein schreien
will, das ich das schon richtig verstehe.

Der Altgeselle setzt Prioritäten und deshalb seinen Weg zum Klo fort. Wie kann er mich nur mit dieser Situation allein lassen.

Der Aufseher sieht mich immernoch so an und will wohl als Gegenleistung eine Reaktion dafür. Mir fällt nichts besseres ein als „Ähm…ja…nein, es ist schon alles in Ordnung so…nur keine Umstände, wirklich.“
„Aber das macht doch keine Umstände“. Das sind die Worte die dieser Mund formt während er sich gleichzeitig zu einem Lächeln verzieht das so vieles sagen könnte, aber in mir Ekel hervorruft.
Ich merke wie sich in meinem Inneren ein „Weiblichkeitszwangsverhalten“ einschaltet und meine Gestiken, meine Körerhaltung und meine Stimmlage unter Kontrolle bringt. Ich hasse es wenn das passsiert.
Bis eben war mein gesamter Körper noch geschlechtsneutral. Ich war ein Mensch in Arbeitskleidung. Kleidung die die weiblichen Rundungen verschleiert. Ein Mensch dessen Gangart von den Arbeitsschuhen bestimmt wird.
Einfach ein Mensch der arbeitet.

Jetzt bin ich eine Frau.

Ich schaue verschämt zu Boden und versuche mich aus dieser unangenehmen Situation zu lächeln. Mein Körper tut Dinge die ein Gegenüber, gerade ein solches Gegenüber, im Normalfall als schüchternen Flirt fehlinterpretiert. Ich will mich selbst anbrüllen damit aufzuhören, aber eine andere Stimme in mir schreit lauter. Halt die Klappe, es ist eh gleich vorbei!
Der Altgeselle muss ganz schön viel getrunken haben, denn er ist immer noch nicht zurück.
Während ich meinen Fuß anlächle der gerade dabei ist auf dem Boden zu scharren, registriere ich eine Bewegung in der Nähe. Ein strahlender Altgeselle maschiert freudestralhend und nun wieder breitbeinig auf mich zu. „So, kann losgehn.“ Gott sei Dank.

Wir sind um die Ecke. Der Altgeselle erläutert seinen Plan bezüglich der anstehenden Arbeiten und mein Gang normalisiert sich wieder. Ich bin oberflächlich belustigt über den putzwütigen Aufseher, aber eigentlich stock sauer.
Welches Recht nimmt er sich heraus mich in diese Rolle zu drängen? Warum konnter er mich nicht einfach links liegen lassen? Warum habe ich diese Situation geschehen lassen? Warum habe ich diese oftmals so kontraproduktive Form der Weiblichkeit nicht unter Kontrolle?
Ich will hier doch nur meine Arbeit machen und er hat es doch auch nur nett gemeint.
Aber das ging heute nicht. Wegen der Brüste. Und weil es Jungs gibt bei denen der Spieltrieb lauter ist als der Rest.

Motivation

Es ist 5:45 Uhr und mein Wecker klingelt.
Aufstehen, frühstücken und hinein in die Arbeitsklamotten. Latzhose, Sport-BH, Shirt, Baumwolljacke und natürlich Skiunterwäsche. Es ist März, aber immer noch zu kalt um auf der Baustelle ohne lange Strumpfhosen länger als 20 Minuten zu überleben.
Ich bin Lehrling.
Mein Lehrberuf hiefl früher mal Schlosser, aber das Arbeitsamt, nein, die Arbeitsagentur, denkt sich gerne neue Berufsbezeichnungen aus. Also werde ich später mal nicht Schlosserin, sondern Metallbauerin. Fachrichtung Konstruktionstechnik.
Und da Metallbauer nun mal fast immer männliche Zeitgenossen sind, gibt es in meinem Leben zur Zeit fast ausschliesslich Männer.
Aber wir leben ja zum Glück in einer Gesellschaft in der Frauen emanzipiert und der moderne Mann selbstredend das aufgeschlossenste Wesen unter der Sonne ist. Ich wage hiermit eine provokative Spekulation, auch auf die Gefahr hin die Männerwelt gegen mich aufzubringen, aber ich fürchte doch das es da tatsächlich Ausnahmen gibt.
Männer denen man Ihre tiefgründige Unterstützung und Akzeptanz für (hach…ich liebe diesen Ausdruck) „Frauen in männerdominierten Berufen“ nicht so ganz glauben will. Und wo es schon unter den Männern kaum abtrünnige Schafe gibt die den Pfand der Emanzipation skeptisch beäugen, da scheint es natürlich geradezu undenkbar das es eventuell , ganz vielleicht, Frauen geben könnte die ihren Brötchenverdienern da recht geben.
Diese kleinen Theorien möchte ich der Welt unterjubeln.
Die Hoffnung das vielleicht die eine oder andere Frau die sich auch auf das, zwar zum Teil erforschte, aber doch noch so unbekannte Territorium der Männerberufe wagt, in meinen Erfahrungen etwas wiederfindet oder entdeckt.
Es ist nicht mein Anliegen zur Verurteilen, ich möchte aufzeigen. Ein Bild von einer Realität die mir selbst manchmal so unwirklich vorkommt.
Zum Teil liegt mein Ansporn hierzu in einem Mangel an Weiblichem in meinem Leben begründet. Mit der Zeit wuchs dieser Mangel zu einem Bedürfnis heran das in mir den Drang weckte mich mit anderen Frauen in ähnlichen Situationen auszutauschen, von Ihnen lernen zu können. Gefunden hab ich bisher leider noch keine.
„Einfach machen“. Das sagte vor kurzem der Altgeselle in unserer Werkstatt zu mir. Zwar meinte er etwas völlig anderes, aber es hat seinen Effekt nicht verfehlt.